Nero – Ein riesiger Hund mit riesengroßer Seele
In der Ausgabe der Klondike News vom 1. April 1898 ist folgendes zu lesen: „Miss Mulrooney ist eine uns allen wohlbekannte, aus guter Familie stammende, über ein fantastisches Organisationstalent verfügende junge Dame und wunderbare Geschäftsfrau. Gestern legte sie innerhalb von 3 Stunden 18 Meilen mit ihrem Schlitten zurück, den ihr treuer Hund, der Bernhardiner Nero zog. Nero ist der einzige Vertreter seiner Rasse in unserer Region und der größte Hund im nordwestlichen Verwaltungsbezirk.“
Viele Jahre später, genauer gesagt 1962, erinnerte sich Belinda Mulrooney Carbonneau bei einem Interview in ihrem Zuhause in Seattle unter Tränen an ihren riesigen Freund und Kameraden, der zur Zeit des Goldfiebers von Klondike und bei späteren Reisen nach Europa immer bei ihr gewesen ist.
Sie stütze sich auf den schlammigen Pfaden der Region von Dawson auf Neros Rücken und Nero gab ihr Halt in den Goldminen des Bonanzabachs. Die ermüdeten Goldgräber konnten in Dawson an der Bar und im Restaurant des Grand Forks Hotels Erholung finden und dort konnten sie auch, das mit harter Arbeit gefundene Gold, ausgeben. Dieses Hotel war eines der ersten und der beliebtesten Hotels in Belindas „Hotelkette“. Von Woche zu Woche ruhten hier für kurze Zeit riesige Vermögen in dem nicht allzu großen Tresor des Hotels. Ein großes Problem war, dass es in Dawson zu dieser Zeit keine Bank gab. Das Geld musste wöchentlich oder alle zehn Tage nach Skagway transportiert werden. Diese Arbeit wurde meistens von Belinda Mulrooney erledigt. Bei einer dieser Geldtransporte im Frühjahr 1898 reisten Belinda, Nero und einige Bergmänner mit bedeutenden Mengen an Goldstaub los. Sie hatten an beide Flanken von Nero je einen vollen Sack mit Gold gebunden. Der riesige Hund trug diese schwere Last ohne Probleme und es gab keinen Menschen auf dem Weg, der diese hätte berühren wollen. In diesem Jahr erschwerte ein plötzliches Tauwetter die Reise, die Bäche schwollen an und die Pfade wurden rutschig. Einen der reißenden Bäche wollte die Gruppe über einen umgestürzten Baum überqueren. Zuerst lief Belinda mit ihrem vollen Rucksack über die provisorische Brücke, ihr folgte Nero. In der Mitte der „Brücke“ rutschte der Hund aus und fiel in das eisige Bachwasser. Die ihm angehängten Säcke zogen ihn wie einen Anker in die Tiefe. Belinda schmiss sofort ihren Rucksack zu Boden und stürzte sich, an einem darüber rankenden Weidenast festhaltend, ins Wasser. Das führte jedoch dazu, dass der wilde Bach auch sie mit sich zog. In dem eisigen Wasser gelang es ihr irgendwie nach Luft ringend Neros Halsband zu fassen, doch konnte sie den Hund nicht herausziehen. An einer der Biegungen des Baches gelang es den Goldgräbern Belinda zu fassen, die halb ertrunken den tot scheinenden Hund mit sich zog. Sie versuchte ihren Begleitern zuzuschreien: „Schneidet das Gold von dem Hund! Nur den Hund! Lasst das verdammte Gold, wo es ist“! Und die Begleiter befolgten ihre Anweisungen, wenn auch verwundert über diese Vernunftlosigkeit und die aus dem Mund einer Dame stammenden Flüche. Das Gold war verloren, doch Neros Leben war gerettet.
Nero, Anfang 1897 geboren, war laut Belinda „ein Bündel aus Ohren, Beinen und einem großen Körper“. Belinda, die vor dem Goldfieber aus Pennsylvania nach Norden gekommen war, um reich zu werden, kaufte den Welpen einem Briten ab. Der junge Mann war mit seinem Boot auf dem Yukon mit karger Ausrüstung und einem ständig hungrigen, winselnden Bernhardiner unterwegs. Der Engländer war auf der Suche nach Arbeit und nahm gern Arbeit in einer der Bergminen von Belinda an. Zuerst weigerte er sich den Welpen zu verkaufen, doch es gelang Miss Mulrooney einen Deal mit ihm zu erzielen, demnach der Hund ihnen beiden gehören soll. Natürlich war Belinda die Halterin des Hundes und der Brite verzichtete nach der ersten Saison auf seinen Anteil an dem Tier (dabei hat wohl auch die sehr hohe Summe, die die Frau ihm angeboten hatte, eine Rolle gespielt. Eine genaue Summe ist nicht bekannt, doch war es angeblich eine unverschämt hohe Summe).
In dieser Zeit ließ Belinda das Grand Forks Hotel errichten. In diesem bedeckten die Wände chinesische Seidentapeten, der Chef kam aus San Francisco und die Gaslampen waren mit venezianischem Kristall umhüllt. Eine Flasche Champagner kostete so viel, wie eine Wochenmiete in einer Wohnung in New York. Die müden Goldgräber wurden außer mit Dance-Hall-Girls mit heißen Bädern erwartet. Dieses Gebäude war Neros Zuhause (im Hotel hatte Nero ein eigenes Zimmer).
Zur Zeit des Baus ihres zweiten und dritten Hotels war Miss Mulrooney bereits die reichste Frau in der Region von Klondike. In dieser Zeit reiste sie oft zu ihrer Familie nach Pennsylvania, doch besuchte sie auch häufig Seattle und San Francisco. Natürlich war ihr Nero stets zur Seite und Belinda hielt ihr Geld nie bei sich, sondern in einem Beutel am Hals des Hundes. In dieser Zeit ließ die allgemeine Sicherheit in Seattle etwas zu wünschen übrig, doch Belinda beschwerte sich nie, dass man sie auszurauben versuchte.
Zurück in Klondike, lernte Belinda Charles Eugene Carbonneau kennen, der sich für einen Nachfahren einer französischen adligen Familie hielt, doch bösen Stimmen zufolge nur ein Sekthändler aus Québec war. Bisher haben wir nicht erwähnt, dass Belindas Reichtum nicht gerade in direktem Bezug zu ihrer Schönheit stand. Das störte jedoch den schneidigen Franzosen ganz und gar nicht und er hielt um die Hand der Dame an. So seltsam es auch erscheinen mag: Belinda machte ihre Entscheidung von Nero abhängig: Wenn der Hund knurren würde, wäre eine Hochzeit ausgeschlossen. Doch Nero knurrte nicht, sondern schleckte ganz entgegen seiner Natur die Hand des etwas verängstigten Verlobten. Die Flitterwochen begannen in Paris und das Jahr 1900 verbrachte das Paar in Europa. Zurück in der Neuen Welt ließen sie sich in Seattle nieder und Nero lebte dort bis zu seinem Tod.
Auch darf der Umstand nicht ausgelassen werden, dass Nero in der Literaturgeschichte unsterblich wurde. 1897 reiste ein junger kalifornischer Schriftsteller, ein sogenannter Jack London nach Norden, um sein Glück als Goldgräber zu versuchen. Er verbrachte einen Winter in der Gesellschaft der Goldgräber, in einer Blockhütte 60 Meilen von Dawson entfernt. Gold fand er zwar keines, doch reiste er voller Geschichten nach Hause, die er in den folgenden 19 Jahren in unzähliger Form verewigte. 1903 erschien sein weltberühmter Roman „Ruf der Wildnis“, dessen Held Buck ist. London nahm zwei Hunde als Grundlage für Buck: Belinda Mulrooneys Hund Nero und den Mastiff Julian von Clarence Berry. Auf diese Weise gelangte Neros Leben mit einigen Veränderungen in 30 Sprachen und in vielen Millionen Exemplaren zu den Lesern der Welt.
János Horváth